TRUST # 185 -- August/September 2017

Mit einiger Verspätung hier meine Rezensionen im TRUST Nummer 185. Dieses Mal mit dabei:

-- WESTERN ADDICTION – Tremulous /// NICK CAVE & THE BAD SEEDS – Lovely Creatures, The Best Of Nick Cave & The Bad Seeds /// PETER HOOK & THE LIGHT – Movement Tour 2013, Live in Dublin /// MINISTRY – Sphinctour /// 1919 – Bloodline /// DORORO – Sandstorm Bringer /// STIRB NICHT IM WARTERAUM DER ZUKUNFT | Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer – Tim Mohr

WESTERN ADDICTION – Tremulous

San Francisco, Kalifornien, USA. Zwölf Jahre nach ihrem Debütalbum bringen die Fat-Wreck-Schreibtischhengste mit „Tremulous“ nun ihre zweite Full Length an den Start. Geboten wird eine runde halbe Stunde Punkrock, die glücklicherweise nicht so weichgespült und gut gelaunt wie bei einigen ihrer Labelkollegen ausfällt. Das Gaspedal wird sparsam eingesetzt, Aggression und Melodie halten sich die Waage. Kid Dynamite lassen grüßen, auch Descendents oder Good Riddance, wobei Western Addiction de facto keine Hymnen haben und eher auf eine Rotzigkeit à la Black Flag setzen. Aufgefallen sind die hervorragenden Bassläufe und die kritischen, dabei aber herrlich unplumpen Texte. (Daniel)
Fat Wreck Chords

NICK CAVE & THE BAD SEEDS – Lovely Creatures, The Best Of Nick Cave & The Bad Seeds

Brighton, UK. Ursprünglich für 2015 geplant, als Überblick über drei Jahrzehnte Nick Cave & The Bad Seeds, wurde diese Best-Of-Compilation nach der Katastrophe im Sommer desselben Jahres erstmal auf Eis gelegt. Stattdessen kam 2016 mit „Skeleton Tree“ ein unfassbar gutes Album raus, auf dem der Tod von Caves Sohn Arthur in jeder Note, jeder Textzeile mitzuklingen schien. 2017 nun die Sammlung von Caves „Lovely Creatures“ in vier unterschiedlichen Versionen – von spartanischer DoCD bis Super-Deluxe-Package inklusive Buch und Fanartikeln ist für jeden Geldbeutel etwas dabei. Die mir vorliegende Version ist eine in Buchform verpackte Triple-CD mit DVD: 45 Songs aus den Jahren 1984 bis 2013, zwei Stunden Filmmaterial, 36 Seiten Booklet mit allerlei Fotos und einem etwas langatmigen Essay von Kirk Lake. Unterm Strich wohl eher eine Anschaffung für Einsteiger, da musikalisch nichts Exklusives oder Rares geboten wird. Aber wer braucht das schon, wenn man mit einer kompakten Veröffentlichung ins cavesche Universum eintauchen kann, um mit dem Fürsten der Finsternis in 45 von ihm handverlesenen Songs die luftigsten Höhen und die finstersten Abgründe der menschlichen Existenz zu erkunden? (Daniel)
Mute Records

PETER HOOK & THE LIGHT – Movement Tour 2013, Live in Dublin

Manchester, UK. Der ex-Bassist von Joy Division und New Order tingelt mit ein paar Kumpels unter dem Namen Peter Hook & The Light durch die Lande und performt Songs seiner alten Bands, bevorzugt ganze Alben auf entsprechend betitelten Touren. Auf dem hier besprochenen Tonträger findet sich das 1981er New-Order-Debüt „Movement“ mit ein paar Joy-Division-Nummern als Dreingabe, aufgenommen 2013 in Dublin. Wie sich das anhört? Wie eine gottverdammte Coverband. (Daniel)
Westworld Recordings

MINISTRY – Sphinctour

Chicago, USA. „Im Bus lagen so viele Kanülen rum, das Ding sah aus wie eine verdammte Blutbank. Rey und ich drückten jeden Tag, den ganzen Tag.“ – O-Ton Al Jourgensen zur 1996er „Sphinctour“, von der die auf diesem Tonträger zusammengestellten Live-Aufnahmen stammen. Auch wenn ich auf Jourgensens Ekeldrogenporno-Zirkus gut und gerne verzichten kann, muss ich doch zugeben, dass ich beim Horrorintro von „Psalm 69“ und einem Blick auf die Titelliste dieser Scheibe schon gern eines der hier für die Nachwelt verewigten Ministry-Konzerte gesehen hätte. (Daniel)
Dissonance Productions

1919 – Bloodline

Bradford, UK. Als sich das Post-Punk-Quartett 1984 nach einer Handvoll Singles und einem Album auflöste, war ihr heutiger Sänger Rio Goldhammer noch nicht mal geboren. Jetzt kommt 37 Jahre nach Bandgründung das zweite Album namens „Bloodline“ heraus, dessen Veröffentlichung der 57-jährige Gitarrist und 1919-Originalmitglied Mark Tighe nach seinem Krebstod Anfang dieses Jahres nicht mehr erleben konnte. Kein Comeback ist unmöglich, Zahlen sind Schall und Rauch, der Moment ist alles und dieses Album Grabstein und Geburtsurkunde zugleich. Auf Bloodline wird melancholischer Post-Punk in klassischer Besetzung zelebriert: authentisch, engagiert, düster, mit großen Melodien und immer wieder tanzbar. Verstehe, wer will, warum so viele dieser peinsamen Studentenbands mit ihren sehr viel schlechteren Aufgüssen dieser Originale so sehr viel erfolgreicher sind. (Daniel)
Westworld Recordings

DORORO – Sandstorm Bringer

Osaka, Japan. Laut Infozettel handelt es sich bei Dororo um eine 1984 gegründete „veteran Osaka hardcore band“. Auf dieser Compilation-CD mit Aufnahmen aus den Nullerjahren und neu aufgenommenen Stücken aus den Achtzigern ist jedoch nur Altherrenrock mittleren Tempos mit Punkkante und gewissem Prollfaktor zu hören. Finde den Fehler! (Daniel)
MCR Company

STIRB NICHT IM WARTERAUM DER ZUKUNFT
Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer – Tim Mohr (Aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke und Frank Dabrock)

München, BRD. Ein Buch über DDR-Punk, geschrieben von einem New Yorker Journalisten, der selbst weder Punk war, noch den Osten erlebt hat und eigentlich „nur eine gute Geschichte erzählen will“. Kann das gut gehen? Spoiler-Alarm! Ja, es kann, aber es kommt ein bisschen auf die eigene Erwartungshaltung an.
Im Laufe der Jahre sind um die dreißig Titel zum Thema Zonenpunk erschienen, und eigentlich, so sollte man meinen, ist es langsam mal gut damit. Offensichtlich war Tim Mohr anderer Ansicht, als er inspiriert von einem mehrjährigen Berlinaufenthalt Mitte der Neunziger und den dabei entstandenen Freundschaften mit Ostpunks beschloss, das Thema noch mal aus einer ganz anderen Perspektive aufzurollen. Und so wälzte er Stasiakten, führte über sechs Jahre mehr als fünfzig Interviews mit Zeitzeugen, grub sich durch Archive und Bibliotheken. Heraus kam ein 550 Seiten starker Ziegelstein von einem Buch, in dem Mohr am Beispiel einiger Protagonisten die Geschichte des DDR-Punk beschreibt. Los geht’s 1977 mit der ersten Zonenpunkerin, „Major“ aus Köpenick, den Schlusspunkt setzt am 9. November 1989 ein Konzert von Feeling B und Die Anderen in Kreuzberg. In den 500 Seiten bzw. zwölf Jahren dazwischen: viele Geschichten von Planlos und Namenlos; von Repression, Stasiknast und gesellschaftlicher Ausgrenzung; von der Aufspaltung in Politpunks mit Totalverweigerungsattitüde und angepassteren Bands mit staatlicher Auftrittsgenehmigung; von IM-Spitzeln in der Szene, Hausbesetzungen, Naziattacken; von der Rolle der Kirche als Zufluchtsort, von Zwangsausbürgerungen, Punkfestivalen. Sprich: Stories von einem eigentlich vollkommen unmöglichen Wunder, einem Irrtum der Geschichte, einem Fehler im System – dem Aufblühen einer politischen Subkultur in einem totalitären Staat.
Mohr erzählt diese Geschichte wie ein Amerikaner, im Stil einer Magazinreportage, ohne Quellenangaben oder Zitate, und hier und da mit ein bisschen zu viel Pathos. Der Effekt: ein mitreißender Erzählfluss, eine zusammenhängende Story, Empathie für die Protagonisten und am Ende jedes Kapitels die Frage, wie es mit A-Micha, Jana, Otze, Pankow, Speiche und all den anderen weitergeht. Ebenfalls positiv zu bewerten, und sehr wahrscheinlich Folge von Mohrs relativer Genrefremdheit, ist auch der Abstand und der Überblick, den er bei der Darstellung eines derart komplexen Themas wahrt. Er beißt sich nicht in Einzelschicksalen fest, erzählt nicht von der dreiwöchigen Existenz irgendeiner Popelpunkband aus Niederndodeleben.
Mohr zufolge war das Buch nicht als Musikbuch geplant. Folgerichtig geht es (leider) nicht um Platten, Songs, Bands, Stilrichtungen, Konzerte etc., zumindest nicht vordergründig, sondern um die Un-/Möglichkeit der Existenz von Punk in einer Diktatur. Auch die Überhöhung von Punk als Wegbereiter des Systemzusammenbruchs und die Hervorhebung der Rolle einzelner Zonenpunks im Berliner Techno-Club-Zirkus der Nachwendejahre, die in einem Kapitel über den Türsteher des Berghain gipfelt, irritieren ein wenig. Aber das ist Kleinkram, ohne Auswirkung auf den Gesamteindruck. Unterm Strich ist „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft“ ein packendes Buch und momentan der für Zonenpunk- und/oder DDR-Interessierte bestmögliche Einstieg in die Materie. (Daniel)
Heyne Hardcore